Die Frage stellt sich, ob Gefängnisse nicht mehr Schaden anrichten, statt zu resozialisieren!
Diese Auffassung vertritt zumindest der Leiter der Beratungsstelle „Psychosoziale Sprechstunde“, Dennis Riehle (Konstanz), die Menschen nach Inhaftierung begleitet: „Viele Gefängnisse sind hoffnungslos überlastet, die Insassen werden auf viel zu kleinem Raum untergebracht, psychotherapeutische Angebote sind Mangelware und auch die gesundheitliche und finanzielle Versorgung der Gefangenen sei nur sehr schwer erträglich“, berichtet Sozialberater Riehle aus vielen Gesprächen mit ehemaligen Häftlingen. „Insgesamt hat sich gezeigt, dass der Grundgedanke des Wegsperrens überholt ist und letztlich mehr Schaden anrichtet, als dem Gebot der Resozialisierung irgendwie gerecht zu werden. Das theoretische Ansinnen hat sich über die Zeit zu einer Utopie entwickelt. Wir gehen bis heute davon aus, dass der Strafvollzug hinter Gittern der geeignete Ort ist, um Menschen wieder auf die richtige Bahn zu lenken. Nachdem die Mehrheitsgesellschaft keinen Einblick in unsere Anstalten nehmen kann und Haftbedingungen auch medial kaum thematisiert werden, bleibt es auch in der Öffentlichkeit häufig bei den typischen Stammtischparolen. Einkerkern, Auge um Auge und Der soll darin versauern! sind die klassischen Aussagen derjenigen, die keinerlei Bild davon haben, was es tatsächlich bedeutet, jahrelang hinter Mauern zu verbringen. Die Feststellung, wonach ein Gefängnisaufenthalt nicht selten den Tod auf Raten bedeutet, kann sicherlich nicht völlig von der Hand gewiesen werden. Ohne Zweifel: Fehlverhalten bedarf einer Bestrafung. Doch ist es im 21. Jahrhundert tatsächlich noch angemessen, sinnvoll und verhältnismäßig, Straffällige zu verwahren? In Wahrheit ist das Thema des Justizvollzugs auch in der Politik ein Tabu, weil die Mehrheit unter uns bis heute nicht bereit ist, sich mit Personen zu befassen, die Vergehen und Verbrechen begangen haben. Sie werden als Abschaum der Gemeinschaft betrachtet – und haben kaum eine Lobby. Selbst Richter sind bislang weiter der Ansicht, dass menschliches Denken und Handeln in der Haft verändert werden kann“, erläutert Dennis Riehle seine kritische Haltung hierzu.
„Sie haben jetzt genug Zeit, um umzukehren, erinnere ich mich an eine Urteilsbegründung. Der Ansatz der Buße ist verkommen zu einem Schmorenlassen. In den deutschen Gefängnissen wird kaum etwas dafür getan, dass die Verurteilten tatsächlich wieder in die Straflosigkeit zurückfinden können. Im Gegenteil: Haftanstalten sind eine Brutstätte für Gewalt. Und das vermag ja bei etwas mehr Ehrlichkeit auch nicht zu verwundern, denn eine soziale Isolation über ganze Dekaden hinweg verwandelt die Psyche eines Menschen zwangsläufig ins Negative. Das macht nicht zuletzt die hohe Prävalenz bei den Suiziden klar. Zudem: Auch Insassen, die bisher nicht zur Aggression neigten, werden nicht selten durch den Kontakt mit Schwerverbrechern mit Brutalität infiziert – oftmals auch wegen der Tatsache, sich im Vollzug wehren und mit Rivalitäten umgehen zu müssen. Menschen sind evolutionär eben nicht dafür gemacht, dauerhaft ihrer Freiheit entzogen zu werden. Das Argument, wonach Strafe ja auch wehtun müsse, rechtfertigt nicht das unbegrenzte Wegsperren von Personen. Es gibt viele Stellschrauben, an denen man drehen könnte, um die Situation zu verbessern: Stärkere Separierung von Inhaftierten je nach Schwere der begangenen Straftat und der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen, mehr Zugang zu Kommunikation mit der Außenwelt, eine intensive psychologische Betreuung oder ein gelockertes Besuchsrecht sind nur einige Punkte. Doch all das wäre nur Symptompolitik. Stattdessen brauchen wir einen Sinneswandel: Einkerkern kann keine Antwort auf Straffälligkeit in der Moderne sein. Alternative Formen von Justizvollzug sind gefragt: Ob es nun der Einsatz von Hausarrest, die vermehrte Benutzung von Fußfesseln oder der verstärkte Einsatz sozialer Arbeit für Verurteilte ist – wir benötigen ein Verständnis von Sühne, das einem humanistischen, aufgeklärten und sozialisierten Rechtswesen der Neuzeit ethisch gerecht wird“, sagt Dennis Riehle.
„Zu sehr wird der Strafvollzug auch heute noch als eine Form der Befriedigung von Rachsucht angesehen. Je höher die Strafe, umso genugtuender für die Geschädigten – so denkt es offenbar die Allgemeinheit. Dabei zeigen viele Feldversuche, dass Täter-Opfer-Ausgleiche die Seele beider Seiten viel eher zur Ruhe kommen lassen als das Unterbringen des Verurteilten im Gefängnis. Im Vordergrund muss die Spiegelung des Geschehenen stehen. Die Hinführung zu einer ehrlichen Reue und Einsicht des Straffälligen ist viel mehr wert als die Gewissheit, wonach er weggesperrt ist. Es bedarf daneben regelmäßig einer objektiven Beurteilung der Tat und der Motive des Angeklagten durch fachkundige Psychologen. Denn in den allermeisten Fällen können bei Beschuldigten seelische Ausnahmezustände beobachtet werden, welche eine Tat nicht entschuldigen oder rechtfertigen, sie aber erklären können. Auch dies trägt zu einer Aufarbeitung bei, die zu einem Vergeben führen kann. Das wäre das höchste Ziel: Die Instandsetzung des Verhältnisses zwischen Schädiger und Geschädigtem. Dass das in vielen Fällen nicht denkbar ist, bleibt völlig unbestritten. Doch wenn der Täter nur allein die glaubhafte Erkenntnis erwecken kann, dass er ein Schuldbewusstsein entwickelt und eine aufrichtige Läuterung durchlaufen hat, ist weitaus mehr gewonnen, als bei einer über Jahre andauernden Haft, die einen Menschen verrohen lässt. Und natürlich wird es immer einen äußerst geringen Prozentsatz an Menschen geben, die nicht rehabilitierbar sind. Allerdings hat auch schon das Bundesverfassungsgericht festgestellt, wonach eine lebenslange Sicherungsverwahrung so ausgestaltet sein muss, dass sie vom Justizvollzug zu unterscheiden ist und lebensnahen und alltagspraktischen Gegebenheiten nahekommen soll. Insofern ist Kreativität und Reformbereitschaft gefragt, um Deutschland einen neuen Zugang zu zeitgemäßer Sanktionierung zu ermöglichen“, so Riehle.
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